Kritisches Denken: Die nächste Killerkompetenz

Gepostet 04.03.2024, getAbstract

Intellektuelle Leistungserbringung ist nicht länger die Exklusivdomäne des Führungspersonals, sondern ein Must-have an den allermeisten Arbeitsplätzen der Zukunft. Erfahren Sie, wie man klar und kritisch denkt.

Kritisches Denken: Die Killerkompetenz für die allermeisten Arbeitsplätze der Zukunft. Foto: Fotolia
Kritisches Denken: Die Killerkompetenz für die allermeisten Arbeitsplätze der Zukunft. Foto: Fotolia

Was dem Fliessbandarbeiter in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der mechanische Roboterarm war, ist ChatGPT heute den durchschnittlich begabten Marketingtextern oder angehenden Excel-Virtuosen: Der technische Fortschritt hat das Beherrschen ihrer Standardwerkzeuge am Arbeitsplatz von einer Notwendigkeit zum Nice-to-have gemacht.

Da die Wissensarbeit in Dienstleistungsgesellschaften einen Grossteil der Arbeit ausmacht, stellt sich damit die Frage: Was ist die nächste Killerkompetenz? Welche Fähigkeit wird für die nächsten 20 Jahre als «nicht automatisierbar» taxiert werden? Die Antworten der Business- und Ratgeberliteratur darauf lauten meist: Empathie! Emotionale Intelligenz! Kreativität! Alles korrekt. Aber: Ist nicht vielmehr die Fähigkeit kritisch zu denken die magische Basiszutat zum Gelingen aller innovativen Rezepte für die Arbeitsplätze der Zukunft?

Mehr Eigenverantwortung, flache Hierarchien, mehr Agilität? Bestenfalls mit kritischen Denkern! Innovationen, kreative Ideen, funktionierende Fehlerkultur? Bestenfalls mit kritischen Denkern! Coaching, emotionale Intelligenz, psychologische Sicherheit? You name it.

Höchste Zeit also, sich die Sache einmal näher anzuschauen.

Was ist kritisches Denken?

Kritisches Denken ist eine Fähigkeit, die es uns ermöglicht, Informationen zu sammeln und zu analysieren, um daraus eine plausible Schlussfolgerung zu ziehen. Es ist in praktisch jeder Lebenslage wichtig und in einer Vielzahl von Situationen anwendbar, denn kritisches Denken ist nicht fachspezifisch – es ist vielmehr die Fähigkeit, Daten, Statistiken, Informationen jeglicher Art zu analysieren, um eine zufriedenstellende Schlussfolgerung daraus zu ziehen – oder eine Lösung für ein komplexes Problem zu ermitteln.

Voraussetzungen für kritisches Denken

Kritisches Denken ist eine Fähigkeit, die sich entwickelt, wenn man bei der Betrachtung eines Gegenstands oder Problems einige Grundsätze und «Spielregeln» beachtet. Genau genommen sind es sechs, und diese wiederum setzen sich aus einem oder mehreren Standards zusammen, denen es beim Denken zu genügen gilt. Hier sind sie:

1. Klarheit, Genauigkeit & Präzision

Beim kritischen Denken sollte Ihr Ziel sein, Klarheit über einen Gegenstand oder einen Sachverhalt zu erlangen. Das bedeutet: Ein möglichst genaues Bild von etwas zu bekommen, eine Sache oder Idee und den entsprechenden Kontext zu «begreifen». Beginnen Sie deshalb damit, das zu Untersuchende möglichst präzise und verständlich zu formulieren (gedanklich, mündlich, schriftlich – je nach Situation und Komplexitätsgrad) – egal, ob es sich dabei um einen physischen oder einen intellektuellen Gegenstand handelt.

Denken Sie an …
Gehen Sie dabei vor wie ein Ingenieur bei der Entwicklung eines Produkts: Arbeiten und denken Sie nicht wild drauflos, sondern erstellen Sie zuerst eine klare Spezifikation, um sicherzustellen, dass ein in der Folge zu entwickelndes Produkt den tatsächlichen Anforderungen entspricht. Dabei ist es wichtig, konkret und genau zu sein.

 

Tipp: Achten Sie darauf, dass Sie die richtigen Fragen stellen (Was …? Wieso …?), um eine Sache oder einen Umstand bestenfalls gut verständlich, aber auch sinnerhellend-eindeutig «festnageln» zu können. Dabei kann Ihnen die Feynman-Methode helfen.

2. Bedeutung & Relevanz

Sie werden feststellen, dass das Definieren eines Sachverhalts, Problems oder Gegenstands gar nicht so einfach ist, da die allermeisten nicht so eindeutig sind, wie wir das gern hätten, bzw. sie je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen haben können. Wäre das nicht so, müssten Sie keine Zeit damit verschwenden, sie kritisch zu beäugen.

Wägen Sie also ab, auf welche Eigenschaften einer Sache Sie sich fokussieren wollen und sollten – und warum. Dazu müssen Sie herausfiltern, welche Teile eines Problems oder eines Gegenstands für Sie im Hinblick auf Ihre Ziele wichtig sind und welche nicht. Ergänzen Sie das «Festgenagelte» aus Punkt 1 um diese vorläufigen Relevanz- und Bedeutungsaspekte.

Denken Sie an …
Wenn ein Marketingexperte sicherstellen will, dass eine Werbekampagne funktioniert, muss er sie auf eine klar definierte Zielgruppe, aber auch auf deren wichtigste Bedürfnisse, Wünsche und Probleme abstimmen. Er sollte ausserdem wissen, welche Limitationen die Zielgruppe hat, damit er sie wirklich erreicht.

 

Tipp: Fragen Sie sich, inwiefern etwas in Ihrem Fall bedeutsam ist, was die direkten oder indirekten Folgen eines Umstands in diesem Falle sind und sein könnten – und wägen Sie die Ergebnisse ab. Denken Sie in verschiedenen, aber möglichen Kontexten. Auch hier hilft Ihnen bei der Analyse die Feynman-Technik.

3. Offenheit & Neugier

Dinge lassen sich an sich definieren und einordnen. Besondere Qualitäten und weitere, für ihr Verständnis wichtige Aspekte gewinnen sie aber auch durch ihre Bezüge zu anderen Dingen bzw. durch das «Drumherum». Deshalb müssen Sie lernen, über den Gegenstand, den Sie kritisch begreifen wollen, hinauszudenken, ihn in seinem Kontext anschauen.

Um diesen zu erkunden, wenn einen niemand dazu nötigt (wie etwa Ihr Learning & Development-Beauftragter), braucht es Offenheit und Neugier. Beides ist ein wenig anstrengend, denn die meisten Menschen tendieren dazu, sich in ihrem Wissens- und Verständnisbiotop recht wohlzufühlen. Aber: Es lohnt sich. Denn:

Mit der Erweiterung des Horizonts wird kritisches Denken immer einfacher.

Denken Sie an …
Für einen Jäger, dessen Aufgabe es ist, einen bestimmten Wildbestand zu reduzieren, ist es nicht nur wichtig zu wissen, was einen Hirsch von einer Wildsau unterscheidet (die Dinge an sich), sondern auch, ob er korrekt handelt oder sich strafbar macht, wenn er in seinem Revier auf eines der beiden Tiere anlegt, welches Gewehr und welche Munition sich für einen Blattschuss eignen, wie er sich in welchen Wetterverhältnissen verhalten muss, damit er eines von beiden überhaupt vor die Flinte kriegt – und natürlich, wie der Wind steht, wenn er zielt (das Drumherum).

 

Tipp: Jede Person, die schon einmal ein Buch zu Ende gelesen hat, das sie mitunter nur mässig bei der Stange hielt, kennt das seltsam erhabene Gefühl beim Deckelzuklappen nach dem letzten Satz: Es ist die intellektuelle Belohnung, die Ihr Körper in Form von Zufriedenheitshormonen ausschüttet, weil Sie über den Tellerrand hinausgeschaut und etwas Neues gelernt haben. Lesen, eine uralte und bewährte Kulturtechnik, hilft bei der Ausprägung kritischer Denkmuster – Sie sollten deshalb möglichst viel und möglichst physisch (auf Papier, nicht auf dem Bildschirm) lesen, wenn Sie Ihren «Kritikermuskel» trainieren möchten.

4. Denken in Breite und Tiefe (und fair)

Bei der kritischen Betrachtung eines Gegenstands wie auch seines Kontexts ist es wichtig, nicht nur eine, sondern verschiedene Perspektiven einzunehmen und auf verschiedene Aspekte einzugehen. Vermeiden Sie es, einen Gegenstand nur zu «scannen». Wer kritisch denken lernen will, muss willens sein, jeweils etwas tiefer zu schürfen – und nicht nur das für alle Offensichtliche nachplappern.

Behandeln Sie verschiedene Standpunkte zu einem Gegenstand, den Sie besser begreifen wollen, unbedingt zunächst gleichberechtigt. Scheuen Sie sich auch nicht davor, vermeintlich «unpopuläre» Zugänge zu einem Thema zu ergründen oder Quellen, die nicht Ihrer Weltanschauung entsprechen, zu konsultieren – je mehr und je tiefer Sie in eine Materie eindringen, desto eher entdecken Sie Zusammenhänge und Widersprüche, die Ihr Breiten- und Tiefenwissen schärfen.

Denken Sie an …
Ganz so, wie ein Journalist, dessen Auftrag es ist, unabhängig zu berichten, sicherstellen muss, dass alle Seiten einer Geschichte fair und ausgewogen angehört und dargestellt werden, ist es Ihr Ziel zu vermeiden, schnelle Schlüsse zu ziehen oder Opfer Ihrer eigenen – womöglich falschen – Vorurteile zu werden, bevor Sie den nächsten Schritt tun. Denn hier geht es nicht um Meinungen, schon gar nicht um Ihre, sondern um die Gewinnung neuer Über- und tieferer Einsichten.

 

Tipp: Zusammenfassungen von Büchern, wie getAbstract sie anbietet, sind fantastisch, wenn es darum geht, in die Breite zu denken und eine Übersicht über Themen zu gewinnen. Wenn es aber um die Tiefe geht, kaufen und lesen Sie das entsprechende Buch.

5. Vollständigkeit

Spätestens jetzt stehen Sie vor einem riesigen Berg an Informationen, die der kritischen Analyse harren. Und ganz ehrlich: Sie werden einsehen müssen, dass Sie die allermeisten Sachverhalte, die auch nur ein wenig komplexer sind als, sagen wir, ein Bleistift, nie vollständig verstehen oder erfassen können. Aber: Das macht nichts. Denn grundsätzlich geht es nur darum, immerhin den Anspruch zu haben, etwas möglichst umfassend zu verstehen. Vollständig in diesem Sinne bedeutet also: Sie sollten so viele Informationen zu einer Sache zusammentragen und analysieren, bis Sie sich sicher sind, alle in Ihrem spezifischen Kontext relevanten Informationen zu haben.

Denken Sie an …
Orientieren Sie sich dabei an einem Arzt bei der Diagnosestellung: Erst wenn er alle relevanten Symptome und medizinischen Vorgeschichten des Patienten in Erfahrung bringen konnte (Anamnese, s. oben), kann er sie berücksichtigen, Schlüsse daraus ziehen und eine Behandlung vorschlagen. 

 

Tipp: Die kritische Superkraft des Arztes bei der Anamnese ist nicht nur das Fragen, sondern vor allem das Zuhören. In aller Regel werden ihm die Patienten auf die kurze und präzise Frage «Woran leiden Sie?» mehr mitteilen, als ihm lieb ist. Das sollten Sie auch tun: Knapp und präzise fragen und dann nur noch lauschen.

6. Logik

Nun gilt es endlich, bei den erhaltenen Informationen logisch die Spreu vom Weizen zu trennen. Was eine Aussage logisch macht, ist ihre argumentative Schlüssig- und Nachvollziehbarkeit. Wenn also etwas sachlich und unter korrekter Berücksichtigung der Definitionen und Bezüge ab- oder herzuleiten ist, stehen die Chancen gut, dass man die vormals undurchsichtige Sache nun transparent gemacht hat – und andere einem bei einer Argumentation auch folgen können, wenn man den Sachverhalt erklären möchte.

Denken Sie an …
Bleiben wir bei unserem Arzt aus dem Beispiel oben. Nehmen wir an, dass der Patient beim Arzttermin von ausgeprägter Müdigkeit und wandernden Gelenksschmerzen erzählt – Symptome, die klassischerweise auf einen grippalen Infekt hindeuten können. Schlechte Ärzte, die nicht auf Vollständigkeit achten, würden nun Neocitran und Bettruhe empfehlen. Unser Arzt jedoch überlegt weiter, begreift die Allerweltssymptome aufgrund seines Breiten- und Tiefenverständnisses erst als den Anfang und fragt: «Was noch?» Auf die Nachfrage ergänzt der Patient, dass ihn eine auffällige Trockenheit der Schleimhäute plagt, er neuerlich auch mit Haarausfall kämpft und letzten Monat zwei Mal Aphten im Mund bemerkte. Erst die Kombination aus den ersten, weitverbreiteten Erkältungssymptomen und der Nennung der letzten drei, eher seltener vorkommenden lässt für unseren logisch denkenden Arzt die nun wahrscheinlich stimmige Diagnose zu: Lupus! 

 

Umgekehrt gilt: Beim Einholen und der Bewertung von Informationen (denken Sie an die Schritte 1 bis 5), die Ihnen helfen sollen, etwas genauer zu verstehen, sollten Sie stets darauf achten, dass sie nachvollziehbar zustande gekommen sind. Wenn sich bei der Prüfung herausstellt, dass das nicht der Fall ist, sind diese Informationen mit grosser Vorsicht zu geniessen, bei groben Ungereimtheiten können Sie sie auch ganz streichen.

Tipp: Um Logiklücken in Argumentationen oder Herleitungen zu finden, bietet es sich an, lieber einmal zu oft als einmal zu selten «Warum?» zu fragen. Laut Takeshi Ohno, der die «Five Whys»-Technik bei Toyota angewandt und popularisiert hat, um nicht ständig nur die Symptome von Problemen in der Entwicklung zu bekämpfen, sondern die Probleme selbst, lohnt es sich, exakt fünf Mal «Warum?» zu fragen, um damit immer tiefer in einen Problemkomplex einzudringen und logische Abhängigkeiten sichtbar zu machen. Spätestens beim fünften Mal, so Ohno und seine Gefolgsleute, sollte man dann die «Root Cause» (das Urproblem) eines Umstands gefunden haben. Findet sich nichts, ist die Argumentation wahrscheinlich sauber.

Vorsicht vor Vorurteilen!

Die intellektuellen Standards bedingen einander zum Teil, stärken sich aber auch gegenseitig, wenn sie angewandt werden. Sprich:

Wer diese Regeln beherzigt, möglichst viele davon im richtigen Moment nutzt, je nach Problemlage, trainiert damit automatisch das kritische Denken.

Menschen, die an die Nutzung dieser Regeln gewöhnt sind, haben Geschwindigkeitsvorteile denen gegenüber, die sich erst neu mit der Materie vertraut machen. Alle gleich anfällig sind sie jedoch für sogenannte Biases, Vorurteile, die einem in den verschiedensten Stadien kritischer Betrachtungen einen Strich durch jede bis dahin logische Kritik machen können – je nachdem, wie gut man mit Affekten umgehen kann und sich selbst gegenüber kritisch denken gelernt hat.

Dieser Artikel wurde uns freundlicherweise von getAbstract (Michael Wiederstein) zur Verfügung gestellt.

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